Spätwinter im Sarek (05. – 25. 03. 2014) – Teil I: „Ob Sturm uns bedrohet von Westen“

Vorwort

Die letzten Monate haben wir uns auf diese Reise vorgefreut und diese Vorfreude mit Planungen und Vorbereitungen ausgekostet – z.T. war davon bereits in diesem Blog zu lesen (Reisevorbereitungen Teil I, II und III).
Wir – das sind David, 26, noch-Student an der BOKU in Wien, der gerade seine Diplomarbeit eingereicht hat, Dieter, 36, Archäologe der gerade sein zweites Studium (der historischen Bauforschung in Berlin) abgeschlossen hat und zurück in Wien auf der Suche nach einem Dissertationsthema ist, und ich, 26, Archäologe und Althistoriker, der eigentlich auch an meiner Dissertation schreiben sollte, wäre da nicht die Reiselust…
Dass Unternehmungen wie diese oft anders verlaufen, als geplant, ist hinlänglich bekannt – gut vorbereitet waren wir aber auch für diesen Fall gewappnet. Und tatsächlich wurden unsere Routenplanungen bald über den Haufen geworfen, bzw. geweht. Ursache dafür war das Wetter, genauer gesagt: der Wind. Und so bietet es sich an, unseren Reisebericht nicht nur aufgrund seiner Länge und der Anzahl der Bilder in Portionen zu unterteilen, sondern auch aufgrund der durch das Wetter bedingten Kontraste – selten zuvor haben wir diese so intensiv erlebt.

Auf große Kälte waren wir eingestellt, stattdessen erwartete uns in Kvikkjokk eine warme Westströmung. Wir rechneten damit, dass die Sache bald ins Lot kommen würde und auch das Bisschen Westwind konnte uns da nicht verschrecken, sorgte es doch erst dafür, dass wir unsere warme Kleidung verwenden konnten. Doch die Hartnäckigkeit des Sturmes auf den Hochebenen stellte uns und das Material auf eine harte Probe und hätte schließlich um ein Haar zum Abbruch der Tour geführt.

Die zweite Woche herrschte dann stabiles Hochdruckwetter mit ungetrübtem Sonnenschein und richtig kalten Nächten – perfektes Tourenwetter also. Wir konnten das landschaftlich unglaublich vielfältige Rapadalen in seiner ganzen Pracht erleben und aussichtsreiche Gipfeltouren unternehmen. Am Laitaure durften wir dann endlich auch Nordlichter beobachten, die sich zuvor immer hinter Wolken oder im hellen Mondschein versteckt hatten.

Auf diese Weise haben wir beide Gesichter des lappländischen Spätwinters erlebt – das unwirtliche und fürchterliche, und das atemberaubend malerische. Der folgende erste Teil unseres Reiseberichtes hat ersteres zum Gegenstand und ist etwas abenteuerlich…
Zu den Teilen zwei und drei mit Sonnenschein und Polarlichtern (und entsprechend mehr Bildern) geht es hier: Teil II und Teil III.

Zur topographischen Orientierung vorweg noch eine Routenskizze (die mit Pulka zurückgelegten Etappen in rot, die Gipfeltouren in orange). Insgesamt haben wir in den beiden Wochen ca. 142 km zurückgelegt und 4300 Höhenmeter überwunden.

Routenskizze (Grundlage: Google Earth 2014)

Routenskizze (Grundlage: Google Earth 2014)

 

Anreise (5. – 8. März):
Wie wir den romanischen Dom zu Lund und die Königsgräber in Uppsala besuchen und die schwedische Küste nordwärts fahren

Die nächtliche Fahrt im vollgepackten Pünktchen verläuft erstaunlich angenehm: David und ich wechseln uns beim Fahren ab, und am einzigen verbliebenen Rücksitz kann man gegen das gepäck gelehnt zumindest zeitweise schlafen. Einen ersten Zwischenstop legen wir Lund ein, wo wir den romanischen Dom dieses für die Christianisierung des Nordens so bedeutenden Bischofsitz besichtigen.

Zwischenstop in Lund

Zwischenstop in Lund

Dom zu Lund - Portal

Dom zu Lund – Portal

In einem Waldstück am Ufer des Vätteren übernachten wir im Zelt und gelangen am nächsten Tag nach Uppsala, dem alten schwedischen Königssitz, wo wir den gotischen Dom und die frühmittelalterlichen Hügelgräber besichtigen.

Dom von Uppsala - gotisches Hauptschiff

Dom von Uppsala – gotisches Hauptschiff

Stadtspaziergang

Stadtspaziergang

Gamla Uppsala - ehemalige Bischofskirche, gesehen vom Thinghügel

Gamla Uppsala – ehemalige Bischofskirche, gesehen vom Thinghügel

Frühlingswetter

Frühlingswetter

Königsgräber

Königsgräber

Von hier aus fahren wir an der Küste weiter gen Norden, bei angenehm frühlingshaften Bedingungen. Erst als wir bei Luleå ins Landesinnere abzweigen, setzt Schneefahrbahn an, die uns die letzten dreihundert Kilometer bis Kvikkjokk erhalten bleibt. Kurz vor Kvikkjokk errichten wir spätnachts noch einmal das Zelt.

Zeltplatz vor Kvikkjokk

Zeltplatz vor Kvikkjokk

Wir erwachen am nächsten Morgen bei Sonnenschein und Wind und legen das letzte Stück unserer Fahrt bei schöner Aussicht auf die umgebende Wald- und Fjälllandschaft östlich unseres Zielörtchens Kvikkjokk zurück.

 

Erster Tag (8.März):
Wie wir uns bei Schneefall auf den Weg machen

Am Vormittag erreichen wir die Fjällstation in Kvikkjokk. Im einsetzenden Schneefall entladen wir den Wagen und bepacken Rucksäcke und Pulken. Die Thermometer zeigen nur knapp unter null Grad – deutlich zu warm für die Jahreszeit, hoffentlich erwartet uns kein Regen! An der Rezeption reservieren wir den 22. März, den Tag unserer geplanten Rückkunft, ein Zimmer. Im Hof unterbricht der Stugvärd kurz das Schneeschaufeln und befragt uns über unser Wanderziel. Wir erzählen ihm von unseren Routenplänen und davon, dass wir bei passenden Verhältnissen ein paar Bergtouren unternehmen wollen. Erst als er hört, dass wir aus Österreich kommen, klärt sich der skeptische Blick, mit dem er unsere Schneeschuhe begutachtet: „Then you will have plenty of experience in the Alps.“ bemerkt er erleichtert.

vor dem Aufbruch

vor dem Aufbruch

Der Kungsleden führt hinter der Fjällstation im Wald bergan und ist trotz des Schneefalls gut gespurt – verantwortlich dafür sind die zahlreichen Schneemobile, die immer wieder an uns vorbeifahren und uns in kräftigen Dieselgestank hüllen. Mit den schweren Pulken keuchen wir den Anstieg hinauf. Aussicht ins Pårtemassiv, unser Ziel für die nächsten Tage, ist uns heute verwehrt; stattdessen macht sich der Wind deutlich beerkbar, als wir den dichten Fichtenurwald verlassen. Am südlichen Ende des zugefrorenen Sees Unna Dáhtá errichten wir am Waldsaum unser Nachtlager. Als wir beginnen, die Spirituskocher anzuheizen, klingt der Wind ab und die Abendsonne bricht kurz durch die Wolken.

Abendstimmung

Abendstimmung

Erst in der Nacht setzt wieder leichter Schneefall ein, wir müssen unsere Schlafsäcke öffnen, da uns ansonsten zu warm ist.

 

Zweiter Tag (9. März):
Wie wir schnaufend die Pulken auf die Hochebene Pårek ziehen und erste Bekanntschaft mit dem Wind machen

Das morgendliche Zusammenpacken muss noch etwas geübt werden, erst um halb elf kommen wir heute los.

Abmarsch

Abmarsch

Am Westende des Stuor Dáhtá verlassen wir den mit Stangen markierten Kungsleden und überqueren den See. Vom Nordufer wollen wir durch den Wald auf die Hochebene Pårek aufsteigen. Die Orientierung ist bei den schlechten Sichtverhältnissen nicht ganz einfach, wir entscheiden uns schließlich für eine nicht zu steile Stelle am Waldhang, etwas zu weit westlich, wie wir später merken sollten. Im weichen Schnee ist der Aufstieg mit den Pulken sehr mühsam. Teilweise ist die Vegetation so dicht, dass wir mit dem Zuggestänge kaum im Slalom durchkommen. Nach nicht ganz hundert Höhenmetern entdecken wir in einer Senke östlich von uns eine deutliche Spur, die in die richtige Richtung verläuft – wir entscheiden uns, dorthin abzusteigen. Unten angekommen sehen wir, dass es sich um eine Schneemobilspur handelt, vielleicht von einem Samen, der auf der Hochebene die Rentierzäune oder Hütten inspiziert hat. In einem Wolkenfenster kommt nun die Sonne zum Vorschein und wir machen eine kleine Mittagspause, bei der wir die am Vortag abgefüllte Suppe mit Trockengemüse und Dörrfleisch verzehren – einfach köstlich!

Sonnenpause

Sonnenpause

Danach geht es mit moderater Steigung nach Norden weiter – bald geht der Wald in einen lichten Birkenhain über und gibt eine schöne Aussicht über das wolkenverhangene Kablafjäll frei.

wir verlassen den Wald

wir verlassen den Wald

immer aufwärts

immer aufwärts

Fjällbirke

Fjällbirke

Als wir die Hochfläche erreichen, empfängt uns stürmischer Westwind. Dennoch ist auf dem windgepressten Schnee gutes Vorankommen und immer wieder kommt die Nachmittagssonne durch die tiefhängenden Wolkenbänke und taucht die Landschaft in ein zauberhaftes Licht.

Pause

Pause

Rückblick

Rückblick

Sonnenfenster

Sonnenfenster

Dieter immer mit Schal...

Dieter immer mit Schal…

Lichtstimmung

Lichtstimmung I

im Westwind I

im Westwind I

im Westwind II

im Westwind II

über die Hochebene

über die Hochebene

Das Pårtemassiv ist heute zwar noch immer in Wolken gehüllt, doch einige nördlich Vorgipfel kommen kurz zum Vorschein.

Stuor Jierttá

Richtung Nord

unsere Spur

unsere Spur

Nachmittag bei Pårek

Nachmittag bei Pårek

Lichtstimmung II

Lichtstimmung II

Stuor Jierttá

Stuor Jierttá

Nach dem Überqueren der Hochfläche halten wir uns östlich in den Taleinschnitt zwischen Gállakvárre und Unna Jiertta. Im hügeligen Gelände spüren wir die Distanz schon in den Beinen und sind froh, als wir kurz vor Sonnenuntergang das Westufer des Gállakjávrre erreichen. Im Windschutz eines kleinen Gehölzes errichten wir unser Nachtlager.

 

Dritter Tag (10. März):
Wie wir am Ijvvárláhko in einen Schneesturm geraten und darin unser Zelt aufbauen

Bei heiterem Wetter aber starkem Westwind brechen wir am Morgen auf. Heute wollen wir weiter nach Norden auf die Hochebene Ijvvárlahko, wo wir für ein paar Tage ein Basislager für Gipfeltouren errichten wollen.

Aufbruch bei Wind

Aufbruch bei Wind

Auf dem windgepressten Schnee kommen wir rasch voran und beginnen bald tangential den Nordhang des Unna Jierta nach Osten zu queren und an Höhe zu gewinnen. In einem weiten Bogen streben wir dann nach Norden, bei immer stärker werdendem Wind. Als unsere Barometer in etwa die Zielhöhe anzeigen, hat sich die Sicht auf wenige Meter verringert: Der Wind treibt den feinen Schnee waagrecht über den Boden, sodass alles in einen dichten weißen Nebel gehüllt ist – Whiteout! Immer stärker kämpfen wir gegen die Sturmböen an, die uns von der Seite umzuwehen drohen. Alle paar Schritte müssen wir den Kompass zu Rate ziehen.

im Sturm

Nach einer weiteren halben Stunde ist dann Schluss: Wir vermögen im Sturm die Marschrichtung nicht mehr zu halten. Was nun? Die Richtung ändern und mit dem Wind nach Osten ausweichen? Aber dort würde uns auch nur Hochfläche erwarten, für einen Abstieg ins Tal mussten wir erst die Schlucht des Gådokjåhkå überqueren, und dies wäre nur weiter im Westen möglich. Aber ist dort vorne nicht ein kleiner Geländerücken? Der müsste doch zumindest etwas Windschutz bieten. Vielleicht könnten wir dort versuchen, das Zelt aufzubauen, anderenfalls müssten wir uns ein Schneeloch graben. Nach kurzer Beratung wagen wir den Versuch: bloß loslassen dürften wir die Zeltplane keine Sekunde, sonst würde unsere Unterkunft ins Rapadalen weitersegeln. Beim ersten Mal reißen die beiden Schneeheringe, die ich zur Fixierung an die Apsis gesetzt habe, im Pulverschnee plötzlich aus, nur ein beherzter Sprung auf die Plane hindert das Zelt am Abflug. Wir beschweren das Zelt nun mit einem Rucksack, bis wir die wichtigsten Punkte befestigt haben, ein paarmal fährt der Wind noch seitlich unter den Boden und droht das Zelt wegzureißen. Schließlich kriecht Dieter ins Zelt, während David und ich die Stangen einschieben und den Aufbau so gut es irgendwie geht vollenden. Recht schief und arg gebeutelt steht es dann schließlich da, die Hauptleine mit dem Pickel verankert, die Windseite mit den Pulken fixiert, doch wir hoffen das Beste. Also rein in die Schlafsäcke und erst einmal aufwärmen!
Am späteren Nachmittag klingt der Wind dann etwas ab und ich mache mich daran das Zelt zu sichern. Mit unseren Stöcken ersetze ich die am stärksten belasteten Heringe und baue den Windschutz aus. Schließlich steht das Zelt ganz ordentlich da, in der Apsis läuft der Spirituskocher und drinnen wird es schon recht behaglich. Unsere Verluste halten sich in Grenzen: Ein warmer Handschuh ist vom Wind davongeblasen worden und ein Schneehering verlorengegangen, Fazit: Glück gehabt, aber bei etwa 90km/h Wind ist der Zeltaufbau im Schnee grenzwertig…

 

Vierter Tag (11. März):
Wie wir im Nebel die Hochebene überqueren und ein Basislager errichten

Die Nacht ist doch noch sehr stürmisch geworden: Wie befürchtet, drehte der Wind auf Nord und nahm das Zelt dann an der Breitseite, genauer gesagt: an meiner Seite. Das Innenzelt wurde hier völlig niedergedrückt, unsere Liegefläche auf zwei Mattenbreiten reduziert und der mittlere Gestängebogen drückte mir bei jeder Böe von oben auf die Hüfte. Zum mangelnden Schlaf gesellte sich der dauernde Zweifel, ob die Gestänge den Kräften standhalten würden. Erst am Morgen flaute der Wind allmählich ab und der Luftdruck begann rasant zu steigen.

Morgenstimmung

Morgenstimmung

Bei bewölktem Himmel aber fast Windstille machen wir uns am Morgen an die Bestandsaufnahme: Die Gestängebögen sind zwar deutlich verbogen, aber noch funktionstüchtig; ein zweiter Satz Gestängebögen zur Verstärkung ist für ähnlich Situationen in Zukunft erwägenswert. Ansonsten weist bloß die kleine Apsis in Bodennähe zwei kleine Löcher auf, wahrscheinlich war gestern beim Aufbau ein Schneeschuhzacken daran gekommen, als wir versuchten das Zelt vom Drachenfliegen abzuhalten…
Über arktisch anmutende Flächen ziehen wir wohlgemut weiter gen Norden.

in der weißen Wüste

in der weißen Wüste

auf die Brücke zu

auf die Brücke zu

Vor uns tauchen bald der Gådoktjåhkkå und die Berghänge auf der anderen Seite des Rapadalen aus den Wolken. Wir halten uns nun etwas weiter westlich auf der gleichen Höhe und steuern auf die Brücke über den Gådokjåhkå zu. Kurz vor unserem Ziel stoßen ein paar Motorschlittenfahrer zu uns, die auf Hütteninspektion im Sarek und Padjelanta unterwegs sind. Sie erzählen uns, dass es morgen erneut etwas windig, danach aber sonnig und kälter werden sollte, kurz darauf sind wir wieder in Einsamkeit. Wir entscheiden uns, unser Basislager im Windschatten der verschlossenen Rentierwächterhütte bei der Brücke zu errichten – eine glückliche Wahl, wie sich noch weisen sollte. Diesmal wollen wir für alle Eventualitäten gerüstet sein und errichten zusätzlich zur mustergültigen Verankerung einen massiven Schneewall als Windschutz.

Lagerbau

Lagerbau

unser Zelt im Wind

unser Zelt im Wind

Nach dem Abendessen beginnt Dieter aus dem Grauen Mann, einem Islandroman von Gunnar Gunnarsson vorzulesen. Für die nächsten Tage hoffen wir auf bestes Bergsteigerwetter…

 

Fünfter Tag (12. März):
Wie wir uns im Zelt einen Islandroman vorlesen und währenddessen draußen der Sturm tobt

…aber das Leben ist nunmal kein Wunschkonzert: Draußen tobt der Sturm. Er hatte bereits am Vorabend wieder eingesetzt und wurde über Nacht immer stärker. Zuerst strich er noch längs übers Zelt, dann drehte er leicht und bearbeitet wieder die Breitseite, just an dem Abschnitt, vor den wir keinen Wall gesetzt hatten. Bö um Bö beugen die Stangen nieder, um sie dann jäh wieder zurückschnellen zu lassen. Die Zeltbahnen peitschen mit ohrenbetäubendem Knall gegeneinander und gegen die Schlafsäcke. Dann eine kurze Atempause – noch im Durchschnaufen dann die nächste Bö. Plötzlich haben wir Schlagseite: Die rechte Wand ist merklich eingedrückt, aus der Apsis scheint es ungewohnt hell. Ich krieche aus meinem Schlafsack, drehe die Lampe auf und öffne den Durchgang zur Apsis: Der Eingang steht offen, seine Plane flattert wie ein Segel im Wind, durch die Pforte treibt Flugschnee in die Apsis und hat die Rucksäcke bereits zentimeterdickt bedeckt. Draußen kann man erkennen, dass die Heringe der Breitseite allesamt ausgerissen sind, ihre Leinen schlagen lose gegen die Zeltwand. Wahrscheinlich hat zuerst der kleine Hering in der Mitte nachgegeben und die anderen waren dem zusätzlichen Druck nicht gewachsen gewesen – der Wind drückte dann den losen Reißverschluss auf. Ich befördere mit den Händen soviel Schnee als möglich nach draußen und schließe den Eingang. Aber so kann es nicht bleiben: die nächste stärkere Bö droht ihn wieder zu öffnen, wenn nicht Schlimmeres. Es hilft nichts, einer muss nach draußen in den Sturm und die eingedrückte Zeltseite neu abspannen. Also rein in die Klamotten, die klammgefrorenen Schuhe, die Sturmmaske aufgesetzt, und hinaus ins Schneetreiben. Im Schein der Lampe rasen die abertausenden Schneeflocken an meinem Gesicht vorbei, ich muss zusehen mich auf den Beinen zu halten. Mit einer Schaufel bewaffnet stapfe ich auf die andere Zeltseite, im Schneegestöber kann man im Osten schon ein leichtes Morgengrauen erahnen. Anstelle der ausgerissenen Heringe setze ich wieder die Skistöcke und schließe danach die Lücke im Wall mit großen Schneeblöcken. Eine Dreiviertelstunde später komme ich mit klammen Händen und Eiszapfen im Bart wieder ins Zelt und krieche in den Schlafsack.
Am Tag wird es nicht besser, mal schwillt der Wind ab, legt dann aber wieder zu. An Aufbruch, wohin auch immer, ist bei diesen Verhältnissen nicht zu denken. Das Schlimmste ist aber, dass inmitten des Schneegestöbers hoch am Himmel die Sonne als bleicher Ball zu erkennen ist: Zehn Meter über unseren Köpfen herrschte also herrlichster Sonnenschein, während wir zeitweise nicht einmal die Hüttenwand sehen können. Und es ist kein Ende des ohrenbetäubenden Lärmes abzusehen. In den schwächeren Phasen lesen wir weiter in unserem Islandroman und folgen mit Spannung der Lebensgeschichte von Olaf Hildesson…

 

Sechster Tag (13. März):
Wie wir den Gipfel 1885 am Gådoktjåhkkå besteigen und im aufkommenden Sturm ins Lager flüchten

In der Nacht ist der Sturm schließlich abgeflaut, der morgendliche Blick aus dem Zelt sieht vielversprechend aus: passable Sicht, stark bewölkt zwar, aber nur die höchsten Gipfel verhüllt, kaum Wind.

morgendlicher Blick in den Talkessel

morgendlicher Blick in den Talkessel

Weil man nicht den ganzen Tag nur im Schlafsack liegen kann und es auch ein wenig kälter geworden war – der Beginn der angekündigten Schönwetterphase? –, beschließen wir die Gunst der Stunde zu nutzen und eine Bergtour auf den nahen Gådoktjåhkkå zu unternehmen. Zwar können wir nicht absehen, ob das Wetter halten würde, doch wir halten das Risiko für vertretbar: die Route würde einfach und übersichtlich sein; im Notfall müssten wir uns für den Rückmarsch nur geradewegs nach Süden halten, der Fluss Gådokjåhkå würde eine gute Auffanglinie bilden, die Brücke wäre leicht gefunden und damit auch der Zeltplatz. Also auf, die Steigeisen eingepackt, die Schneeschuhe angelegt und die Lawinensuchgerät umgehängt, zur Sicherheit kommen auch die Schlafsäcke mit, für eine Notübernachtung im Schnee. Westlich der Brücke überqueren wir den Flusslauf in einer weiten Senke und steigen über allmählich steiler werdende, teils recht abgeblasene Hänge zum Vorgipfel 1524 auf.

Beginn des Anstieges, das Gipfelziel in Wolken

Beginn des Anstieges, das Gipfelziel in Wolken

im Anstieg

im Anstieg

Blick Richtung Rapadalen

Blick Richtung Rapadalen

Rückblick Richtung Boarektjåhkkå

Rückblick Richtung Boarektjåhkkå I

Bereits von hier ist die Aussicht über das untere Rapadalen bis zur Felsklippe des Skierffe hinreißend. Allerdings tauchen wir nun in die Wolkendecke ein und die Ausblicke, etwa in den Gletscherkessel an der Nordseite unseres Gipfelziels werden spärlicher. Über einen breiten Rücken ist auch der Gipfel 1670 bald erreicht, von hier an macht uns der stärker werdende Wind zu schaffen. Zwischendurch geben die Wolken kurz Tiefblicke ins Rapadalen frei.

Rückblick Richtung Boarektjåhkkå II

Rückblick Richtung Boarektjåhkkå II

Nach einem kurzen Gegenhang steigen wir den abgewehten und ziemlich steilen Gipfelhang bis zum Gipfel 1885 auf. Das weitläufige Gipfelplateau bricht nach Norden hin jäh ab und ist eindrucksvoll überwächtet; kurz lässt sich durch den Nebel ein Blick hinüber über den Grat zum Gipfel 1928 erhaschen.

Gipfel 1885

Gipfel 1885

Gipfelphoto

Gipfelphoto

Angesichts der schlechten Sichtverhältnisse und des zunehmenden Windes entscheiden wir uns gegen den Übergang und treten den Rückweg an. Der Wind wird allmählich stürmisch und aufgewirbelter Schnee trübt die Sicht. Zum Glück sind unsere Aufstiegspuren noch zu erkennen, sodass wir auf ihnen problemlos hinunter zum Vorgipfel gelangen können, wo wir sie allerdings verlieren.

Blick vom Gipfelhang auf den Vorgipfel 1670

Blick vom Gipfelhang auf die Vorgipfel 1670 und 1524

Tiefblick ins Rapadalen

Tiefblick ins Rapadalen

Laitaure-Delta mit Skierffe

Laitaure-Delta mit Skierffe

Nach Süden, also. Immer schlechter wird die Sicht, immer öfter nehme ich den Kompass aus der Tasche, die Nadel zittert vom Wind erschüttert. Da – schwarze Punkte voraus, Felsen! Sind das jene östlich der Hütte? Nein, viel zu nahe. Weiter geht es bei kaum merklichem Gefälle. Gegenüber lässt sich ein steiler, felsdurchsetzter Gegenhang erahnen – also sind wir zu weit westlich geraten. Ein wenig weiter links, da erkennt David plötzlich in der Ferne einen roten Punkt neben einem schwarzem: das Zelt neben der Hütte! Beschleunigten Schrittes steuern wir darauf zu, eine Viertelstunde später ist das Lager erreicht. Das Zelt steht, die Abspannungen haben bestens gehalten. Wir bereiten uns ein ausgiebiges Nachtmahl, während draußen wieder der Sturm tobt.

 

Siebenter Tag (14. März):
Wie der Sturm unser Zelt zerstört und uns eine kleine Säge zum Retter in der Not wird

In der Früh nimmt der Wind weiter zu. Wir bleiben zunächst in den Schlafsäcken liegen und versuchen weiterzuschlafen. Das Zelt wird arg gebeutelt, plötzlich steht der Eingang der kleinen Apsis wieder offen. Ein kurzer Blick hinaus offenbart, dass die letzte Leine ausgerissen ist, also wieder hinaus. Beim gebeugten Gang ums Zelt fällt mir schon die eigentümliche Schlagseite auf, mit der der hintere Bereich dahängt: kein Zweifel, diesmal war tatsächlich hinterste der vier Gestängebogen gebrochen. Das ist in der Tat übel, aber hier lässt sich im Augenblick nichts ausrichten. Den hinteren Eingang können wir nicht mehr gegen den Wind geschlossen halten, die Apsis ist schon voller Schnee. Also die Rucksäcke ins Innenzelt, Dieter stemmt sich sitzend gegen die vom Sturm gebeugte Seitenwand. Wie lange mag der Sturm noch andauern? Wird das Zelt halten, was ist mit den übrigen Stangen? Auf die letzte Frage erhalten wir rascher Antwort, als uns lieb ist: Der hintere Zeltteil hat zu stark an Stabilität eingebüßt, als dass die anderen Stangen die Kräfte auffangen könnten. Obwohl wir das Innenzelt mit unseren Körpern stützen, brechen in kurzer Folge auch die benachbarten beiden Gestängebögen. Nun ist wirklich zweifelhaft, ob wir das Zelt würden halten können. Nacheinander legen wir warmes Gewand und Schuhe an und packen die Schlafsäcke zusammen. Indessen nimmt der Sturm an Intensität zu, über 120km/h werden die Böen nun haben. Sollte das noch länger andauern, würden wir das Zelt aufgeben müssen, soviel war klar: Beide Eingänge stehen jetzt offen, die Apsiden und der seitliche Zwischenraum zwischen Außen- und Innenzelt füllen sich rasch mit Flugschnee. Wir sitzen in einem zugigen, flatternden Innenzelt, dessen Bodenfläche immer geringer wird. Wohin also? In den Schnee eingraben? Aber wenn der Sturm andauern würde, so wie vorgestern? Und dann? Irgendwie bis Aktse durchschlagen, ohne Zelt, und mit durchnässtem Gewand, nach einer Nacht im Schnee? Würde das gutgehen, war das Risiko vertretbar? In dieser Lage entscheiden wir uns gemeinsam den Versuch zu unternehmen, die verschlossene Rentierwächterhütte, neben der unser Zelt steht, aufzubrechen. Unsere Notlage – so meinen wir – rechtfertige den Gewaltakt, wir wollen schon für den Schaden aufkommen.
David hat eine kleine, vielleicht sieben Zentimeter lange Metallsäge an seinem Taschenmesser, er beginnt das Unterfangen. Allerdings kommt er nicht weit: Das Schloss vor dem Türriegel ist aus gehärtetem Stahl und der eiserner Bügel hat einen Querschnitt von etwa zwei Zentimetern und müsste zwei Mal durchtrennt werden, schlechte Aussichten also. Im Zelt wird in der Zwischenzeit die Lage immer angespannter, lange können wir hier nicht mehr ausharren. Also ein neuer Versuch, diesmal mache ich mich mit dem Messer zur Tür auf. Zehn Meter gegen den Wind, gegen Böen, an den Pulken vorbei, über den Schneewall: ein Dutzend Mal stolpern, dann der Windschatten an der Hüttenecke, an der Wand entlang weiter. Da der Eingang: nein, am Bügel links ist nichts zu machen. Aber die Öse rechts? Ein schmiedeeisener Ring, vielleicht ein Zentimeter stark, der zwei Mal durchtrennt werden will. Möglich? Schwerlich, aber bleibt ein anderer Weg? Ich taste mich um die Hütte herum: Nein da ist kein anderer Eingang. Also der Ring, ich mache mich an die Wand gepresst ans Sägen. Der Wind treibt mir das Eis in die rechte Gesichtshälfte, immer weiter, bloß nicht innehalten. Zwei Millimeter, drei, vier – dann wird es immer schwerer. Irgendwann bin ich fast durch, fünf Minuten später ganz. Ich bin völlig erschöpft, muss mich vom Wind abgewandt hinkauern. Doch wo ein erster Schnitt gelungen ist, muss auch ein zweiter gelingen. Also überwinden, noch einmal hoch. Diesmal muss ich mich gegen den Wind stellen. Der Ansatz dauert lange, ständig rutsche ich ab. Dann der erste Millimeter, nun liegt die Säge in einer Führung. Die nächsten Minuten scheinen endlos, immer langsamer komme ich voran. Irgendwann steht Dieter neben mir, schützt mich mit dem Körper gegen den Sturm, löst mich beim Sägen ab. Dann – geschafft, der Ring ist durch! Aber noch lässt sich der Riegel nicht wegdrücken, noch fehlt ein Millimeter. Schließlich ist auch der weggefeilt und wir biegen den großen Eisenriegel zur Seite. Nun ist die Tür frei, zum Glück gibt es kein weiteres Schloss. Dahinter: windstill, eine kleine Vorkammer, links Brennholz. Dann noch eine Tür, unverschlossen: der Hauptraum: ordentlich und gräumig, vier Betten, in der Mitte ein Ofen, am verblendeten Fenster ein Tisch. Schnell schließen wir wieder die Türen, bloß keinen Schnee hereinwehen lassen. Nun heißt es zum Zelt zurück und das Gepäck zu evakuieren. Eine Viertelstunde später sind wir mit allem in der Hütte, draußen nur mehr die Pulken und das Zelt, mit Schnee bedeckt als Schutz vor dem Davonfliegen. Drinnen sortieren wir die Ausrüstung und beziehen Lager – noch ist Vormittag. Durchschnaufen, Essen, Ausruhen. In der Hütte herrschen angenehme -3°C, draußen tobt weiter der Sturm, erst als es am Abend finster wird, legt er sich langsam. David und ich bergen die Pulken und das Zelt, das inzwischen mit zu Eisblöcken gepresstem Schnee gefüllt ist. Die übrigen Verluste sind gering, bloß der Regulator eines Spirituskochers (für den ein Ersatzteil dabei ist) und ein weiterer Schneehering. Aber das Zelt ist arg mitgenommen: Drei Gestängebögen gebrochen, die entsprechenden Kanäle durchlöchert, ein 80cm langer Riss klafft im Außenzelt, ein weiterer an der Schneelasche des Einganges, ein ist Apsidenfenster beschädigt. Aussichtslos? Die Tour vor dem Abbruch? Vielleicht, ein herber Schlag in jedem Fall. Aber wir sind nicht in der Stimmung, aufzugeben, noch nicht. Und so setzen wir uns ans Reparieren: Für das Zeltgestänge ist ein Reparaturset dabei, ein Ersatzsegment und eine Hülse, um einen Bruch zu schienen – also können wir zwei gebrochene Segmente ersetzen, aber was ist mit dem dritten? Kurzerhand die Reparaturhülse entzweigesägt – voilá! Etwas mehr als eine Stunde später sind vier mal neun Segmente wieder auf die elastischen Schnüre gezogen und letztere verknotet: ein vollständiger Gestängesatz liegt vor uns. Aber das Außenzelt? Lässt es sich mit den mitgenommenen Nähsachen notdürftig reparieren? Eine bange Frage, die sich nur durch den Versuch klären lässt, und so steht mir eine lange Nacht mit Nadel und Faden (und kalten Fingern) bevor…

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